Rhythmus, Leidenschaft – und Kleider

Dramatischer Gesang, gezupfte Gitarre, klatschende Hände, stampfende Absätze. Flamenco-Musik ist Teil der andalusischen Kultur, und die üppig schwingenden, bunten Kleider sind deren visueller Ausdruck. Auch wenn die meisten dieser Kleider inzwischen industriell gefertigt werden, gibt es sie noch, die handwerklich arbeitenden Schneiderinnen, die die Wünsche ihrer Kundinnen kennen. In meiner Auszeit in Andalusien habe ich eine von ihnen getroffen.

Puri Pavón, eine junge Flamenco-Tänzerin, nimmt mich mit zur Anprobe ihres neuen Kleids. In zwei Wochen wird sie mit ihrer ersten eigenen Show auf der Bühne stehen. Wir klingeln an der Tür eines Wohnhauses im andalusischen Dos Hermanas. Die Schneiderin Susana Sanchez und ihr Mann Luis empfangen uns mit herzlicher Gastfreundschaft. Und ein paar Tropfen Desinfektionsgel auf die Hände – es ist April 2022 und die Pandemie noch nicht vorbei.

Der Flur ist typisch spanisch, schmal und lang. Wir bilden eine bunte Begrüßungskette, fädeln uns nacheinander zur ersten Tür links. Hier schlägt das Herz der Wohnung. Auf rund 10 Quadratmetern hat Susana in einer Art Raumwunder ihr Atelier eingerichtet: drei Tische, zwei Stühle, vier Nähmaschinen, Regale für die Zutaten und weiteren Schneiderutensilien. Am Kopfende eine Garderobenstange, von der Kleider in allen Farben und Verarbeitungszuständen quellen. Daneben ein großer Spiegel. Mit einem Vorhang lässt sich eine Umkleidekabine zaubern.

Luis bringt zusätzlich je einen Stuhl für Puri und mich und obwohl der Raum eigentlich voll sein müsste, passen wir alle auf wundersame Weise hinein. Da Susana und ich keine gemeinsame Sprache sprechen, ist die Tänzerin Puri unsere Simultandolmetscherin. Als Nordeuropäerin schwirrt mir nach kürzester Zeit der Kopf von der quirligen Geräuschkulisse aus stets gleichzeitig sprudelnden spanischen und englischen Sätzen, laufendem Radio und den Klängen des Fernsehens im Nebenraum. Andalusischer Rhythmus.

Handwerk mit Bausch und Bogen

Susana trägt eine weiße Bluse mit Rüschen am Ausschnitt und luftigen Ärmeln, dazu eine senfgelbe Bundfaltenhose und spitze Pumps mit hohem Absatz. „Normalerweise habe ich bei der Arbeit legere Kleidung an, aber die Pumps trage ich immer“, lacht sie. Die sind praktisch auf den Fußpedalen der Nähmaschine. Voller Stolz zeigt sie die Kleider, an denen sie gerade arbeitet, breitet die weiten Röcke mit den typischen Volants aus und erklärt die Details. Volantes de capa werden versetzt zueinander angebracht und sind dadurch leichter, die Volantes canastero liegen unmittelbar übereinander, sodass sie besonders stark aufbauschen. Die Begeisterung für die Arbeit sprüht der Schneiderin aus allen Nähten und lässt ihre Augen blitzen.

Am prächtigsten sind die Kleider für die Ferias, die beliebten Volksfeste Spaniens. Zum Beispiel das bauschige schwarze Kleid mit den weißen Punkten und dem feurigen Unterkleid aus vier roten Lagen (Bild 1). Die innere Lage, die direkt auf der Haut liegt, ist aus einem angenehm weichen Material. Für den besseren Fall ist eine Kordel im Saum eingenäht. Als nächstes kommt ein steifer Tüll für viel Volumen. Darüber eine weitere weiche Lage mit üppigen Volants. Als Besonderheit hat Susana eine kleine Tasche mit Reißverschluss eingenäht, sie lacht: „Für die wichtigen Dinge einer Frau“. Zuletzt das edle schwarz-weiße Obermaterial, wiederum mit einem leichtem Volant. Sieben bis acht Meter Stoff kommen auf diese Weise schnell zusammen, bei opulenteren Modellen können es auch 12 bis 14 Meter werden. Für die Trägerin nicht nur ein Kostenfaktor, sondern auch ein deutliches Gewicht.

Die Tradition des Flamencos besteht in seinem stetigen Wandel

2015 sind Susana und Luis mit ihren beiden Kindern aus Uruguay nach Spanien gekommen. Das Schneidern hat Susana von ihrer Mutter gelernt, auch in Uruguay hat sie damit ihren Lebensunterhalt verdient. In Spanien kam die Leidenschaft für Flamenco-Kleider. Wen der Flamenco einmal gepackt hat, den lässt er nicht mehr los.

Die Familie lebt in Dos Hermanas. Ein Name, den Andalusien-Reisende vermutlich nur kennen, wenn sie auf der Fahrt von Sevilla in Richtung Küste besonders aufmerksam die Autobahnschilder gelesen haben. Kein touristisches Ziel. In der Nähe befanden sich während der Franko-Diktatur mehrere Konzentrationslager, Los Merinales war das bekannteste unter ihnen. Die Insassen mussten einen Kanal für die Bewässerung der Region bauen. So konnte in der Folge der Anbau von Baumwolle ausgebaut werden. Heute gibt es hier keine Baumwollefelder mehr, stattdessen findet man riesige Obst- und Gemüseflächen.

Für die Schneiderin ist Dos Hermanas ein guter Standort durch die Nähe zu Sevilla mit seiner großen Flamenco-Tradition. Susana hat sich bereits einen Namen gemacht. Viele Kundinnen kommen mit festen Vorstellungen über ihr zukünftiges Kleid, andere haben eine vage Idee, wieder andere begeben sich vollständig in die Hände der Diseñadora – der Designerin. Sie berät die Kundinnen, nimmt Maß, fertigt den Schnitt an und anschließend das Kleid. Nach zwei bis drei Anproben ist alles fertig. Einmal hat sich eine Kundin das Hochzeitskleid von Bella Swan (Kristen Steward) aus der Twilight-Saga gewünscht. Susana hat die Filmszenen genau studiert und das Kleid detailgetreu nachgeschneidert.

In einer besonders modernen Interpretation eines Flamencokleids hat die Designerin Elemente ihrer südamerikanischen Heimat eingearbeitet (Bild 2). Das schmale weiße Oberteil fächert ab dem Gesäß in rote und grüne Rauten aus. Jede einzelne in feine weiße Häkelspitze eingefasst. Die schmalen langen Ärmel enden in üppigen weißen Volants, die ebenfalls mit Spitze abgesetzt sind. „Die Kombination der Farben ist sehr persönlich und anders. Im Laufe der Jahre hat die Flamenco-Mode immer wieder den Stil geändert. Ich habe bei diesem Modell etwas ristikiert und verschiedene Stoffe und Texturen kombiniert. Das Kleid ist für eine mutige Frau.“, sagt Susana stolz.

Der Tanz der Anprobe

Für Puri ist es heute die zweite Anprobe und hoffentlich die letzte. Die Zeit ist knapp bis zur Show. Ihr  Kleid ist maronenbraun mit wenigen schmalen, rostfarbenen Volantes de capa am Oberkörper und auf Höhe von Knien und Unterschenkeln. Kleider für Flamenco-Tänzerinnen sind allgemein weniger aufwändig aufgebaut, als die Kleider für die Ferias. Wichtig ist, dass die Tänzerinnen sich gut bewegen können. Puri verschwindet im versteckten Raum hinter dem Vorhang und schlüpft vorsichtig in ihr Kleid. Für diese Anprobe hat sie extra ihre Tanzschuhe mitgebracht. Viele Nähte sind bisher nur grob geheftet. Susana macht sich, bestückt mit einem Nadelkissen auf ihrem Handgelenk, an die Feinarbeit. (Bild 3)

Anfang des Jahres gibt es besonders viele Aufträge, denn zwei Wochen nach Ostern ist in Sevilla die Feria de Abril, die ähnlich bedeutend ist, wie das Münchner Oktoberfest. Die Frauen tragen traditionelle Flamenco-Trachten und wer etwas auf sich hält, lässt sich diese anfertigen. Individualität ist gefragt, jedes Kleid ein Einzelstück. Dieses Jahr ist zeitgleich Puris Flamenco-Show. Susana hat nicht nur Puris Kleid, sondern auch die der anderen sechs Tänzerinnen entworfen. Es sind nur noch wenige Tage Zeit, um alle Kleider für die Show fertigzustellen. In der Nacht vor unserem Treffen hat sie nur zwei Stunden geschlafen.

Wie in einem langsamen Tanz bewegen sich Schneiderin und Tänzerin umeinander, begutachten sich von allen Seiten, tauschen in ihrer schnellen lauten Sprache die Eindrücke aus. An manchen Stellen müssen die Nähte und Volants mit Nadeln etwas nachjustiert werden. Der linke Armausschnitt hängt noch zu weit über der Schulter. In einer fließenden Bewegung schneidet Susana einen halben Zentimeter ab. Puri hat bei der mächtigen Schere neben ihrem Ohr nicht einmal gezuckt. Sie hat großes Vertrauen gegenüber der Handwerkerin. Die Ärmel, die zuvor noch auf dem Tisch lagen, werden nacheinander eingesetzt. Stimmt die Passform des Oberteils? Am Ende sind beide zufrieden mit dem Ergebnis und drehen sich vor dem Spiegel ein letztes Mal umeinander. Es ist die gleiche Leidenschaft, die sie verbindet und der Rhythmus ist Flamenco.

Nachtrag:

Als ich Susanna im Februar 2023 erneut kontaktiere, arbeitet sie gerade an einem Kleid für eine Kandidatin zur Miss Universe Beauty Córdoba. Außerdem hat sie inzwischen ein eigenes Ateliergeschäft eröffnet. Liebe Susana, viel Glück hierfür! Mehr Infos auf Facebook unter „Susana Sanchez Diseños y Moda“.

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